Gefühle altern nicht
Dr. Markus Ebner , MSc.
Organisationspsychologie
Begründer des PERMA-Lead Modells
Positive Psychologie in der zweiten Lebenshälfte
Vor einigen Monaten hatte ich beruflich in Nürnberg zu tun und traf eine liebe Kollegin von mir zum Abendessen in einem recht schicken Restaurant. Obwohl wir uns recht gut unterhielten, wanderte meine Aufmerksamkeit immer mehr zum Tisch neben uns. Dort saß nämlich ein Pärchen der Generation 50+ und beide waren offensichtlich frisch verliebt. Sie konnten im wahrsten Sinne des Wortes ihre Finger nicht voneinander lassen und waren weniger mit dem Essen als mit sich selbst beschäftigt. Sie erinnerten mich an Teenager, die ihre ersten Erfahrungen mit Verliebtheit sammeln. Somit war das Verhalten dieser beiden schon reiferen Menschen in dieser Umgebung doch recht ungewöhnlich. Meine Kollegin brachte es schließlich auf den Punkt: „Gefühle altern nicht!“, sagte sie. Und wie recht sie hat!
Mit 15 war ich davon überzeugt, dass man mit 30 – wenn man aus der Perspektive eines Teenagers dann schon alt ist – seine Emotionen gut im Griff hat oder überhaupt wenig emotional ist. Mit zunehmender Lebenserfahrung und einige Jahrzehnte später sehe ich das natürlich völlig anders. Emotionen sind ein relevanter Teil aller Menschen, unabhängig vom Alter. Das was sich allerdings ändert ist der Umgang damit, und auch welchen Emotionen wir bewusst Raum geben (oder auch welchen Raum sie sich nehmen). Doch welchen Einfluss haben wir darauf? Wie schafft es das Pärchen aus der eben erzählten Geschichte sich entgegen üblicher Konventionen, ihren starken und positiven Emotionen in dieser Form Raum zu geben? Werden wir mit zunehmendem Alter tendenziell zufriedener, oder ist eher das Gegenteil zu erwarten? Und was machen Menschen, deren Lebensfreude in der zweiten Lebenshälfte sprudelt, anders? Mit Fragen dieser Art beschäftigt sich die Positive Psychologie.
Positive Psychologie – Glücksforschung für den Alltag
Professor Martin Seligman, einer der bekanntesten Depressionsforscher weltweit, stellte vor rund 2 Jahrzehnten fest, dass sich die Psychologie überwiegend mit dem Leiden der Menschen beschäftigt hat, aber sehr wenig über glückliche Menschen wisse. Er rief daher dazu auf, Glück, gelingendes Leben, außergewöhnliche Leistungen, also generell positive Lebensverläufe, ebenfalls mit wissenschaftlicher Exaktheit zu erforschen. Und er nannte diesen Zugang „Positive Psychologie“. Sein Aufruf löste innerhalb der Psychologie eine starke Bewegung aus, und heute sind weltweit mehr als 1000 Psychologinnen und Psychologen damit beschäftigt, Positives akribisch zu erforschen: Neben jenen Schülerinnen und Schülern die Unterstützung benötigen, interessierte man sich nun auch für jene, die überdurchschnittlich gut sind. Nicht nur die Bedingungen, die zu Burn-out führen können werden untersucht, sondern auch jene Menschen, die trotz sehr belastender Arbeitsbedingungen keine Krankheitssymptome aufweisen. In Unternehmen werden gezielt jene Abteilungen aufgesucht, in denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besonders zufrieden und gesund sind. Und in der Beziehungsforschung werden Paare analysiert, die über viele Jahrzehnte besonders glücklich zusammenleben. Ziel bei allen diesen Untersuchungen in der Positiven Psychologie ist es, herauszufinden, was die „Zutaten“ für dieses Gelingen sind. Und somit war es logisch, dass man der Frage nachging, was zum gelingenden Leben auch in fortgeschrittenem Alter beiträgt.
Was lässt ein Leben gelingen?
Der Psychiater George Vaillant beobachtet, in einer seit Jahrzehnten laufenden Studie, das Leben von mehreren hundert Menschen, die in den 1940-iger Jahren geboren sind. Sein Ziel ist es, herauszufinden, was ein Leben gelingen lässt. Die Frage, was überhaupt ein gelingendes Leben ist, lässt sich gar nicht so leicht beantworten. So kann jemand eine erfüllte und glückliche Zeit haben und mit 50 sterben. Ein anderer wird über 90, und blickt auf ein überwiegend verbittertes oder langweiliges Leben zurück. Das erreichte Lebensalter alleine ist daher kein Maßstab für ein gelingendes Leben. In der genannten Studie untersuchte man daher Menschen, die alt und gleichzeitig psychisch und körperlich weitgehend gesund und auch mit sich selbst zufrieden sind. Auch bei diesen Menschen fand man Schicksalsschläge wie Scheidungen oder Arbeitsplatzverluste. Den Unterschied zu jenen, die in ihren späten Lebensjahren weniger glücklich sind, fand man allerdings im Umgang mit diesen schweren Lebenssituationen - sogenannte Schutzmechanismen, mit denen Menschen teils unbewusst auf solche Lebensereignisse reagieren. Bei Menschen, die im fortgeschrittenen Alter glücklicher waren, stellte man etwas Erstaunliches als Gemeinsamkeit fest: Sie hatten im Vergleich zu den anderen Untersuchungsteilnehmern eine signifikant selbstlosere, uneigennützigere und eine anderen gegenüber rücksichtsvollere Lebenseinstellung. Altruismus war also ein Hauptaspekt in ihrem Leben. Gerade jene, die im Alter von 40 oder 50 durch die Erziehung von Kindern oder der Pflege von Eltern viel Verantwortung zu tragen hatten, waren im Alter zufriedener.
Den größten Einfluss darauf, ob ein Leben glücklich verläuft, haben also die Beziehungen zu anderen Menschen. Damit ist nicht nur der Lebenspartner gemeint, sondern generell Menschen, die Teil des eigenen Lebens sind. Die Fähigkeit, empathisch zu sein und auch von Menschen umgeben zu sein, die ebenfalls einfühlsam sind, spielen dabei eine der wichtigen Rollen, wie Studien zeigen. Beziehungsfähigkeit, als einer der Hauptaspekte für ein erfülltes Leben, hat daher in der Forschung der Positiven Psychologie einen hohen Stellenwert. Erfüllende Beziehungen zeichnen sich durch ein ganzheitliches Interesse an der anderen Person aus – im Gegensatz zu rein partiellem Interesse wie Arbeitsleistung oder erotischer Anziehung und so weiter. Bereits Aristoteles differenzierte zwischen einer “vollkommenen Freundschaft“ und einer des Nutzens. Tiefe Beziehungsqualität zeigt sich also in wechselseitiger Neugierde an der Gesamtheit der anderen Person und weniger dadurch, welchen „Nutzen“ der andere in einem Teilbereich des Lebens bringt. Letztendlich steckt dahinter das grundlegende menschliche Bedürfnis, von anderen als Individuum gehört, gesehen und somit wahrgenommen zu werden. Zu diesem Bedürfnis nach Anerkennung gehört eben auch das Gefühl, für die andere Person wichtig zu sein und nicht einfach austauschbar oder ein beliebiger Zeitvertreib.
Eine wesentliche Komponente einer tiefen Beziehung ist es, wechselseitig dafür zu sorgen, dass sich der andere verstanden und gemocht fühlt – und zwar in der Gesamtheit seiner hellen und dunklen Seiten. Wenn einer die Bedürfnisse des anderen nicht berücksichtig, verletzt er einen wesentlichen Teil einer nährenden Freundschaft oder Liebensbeziehung. Adam Grant, ein amerikanischer Psychologe zeigt in diesem Zusammenhang, dass manchen Menschen zu einem „Nehmer“-Verhalten tendieren, und andere „Geber“ sind. In einer guten Beziehung findet ein Ausgleich statt. Dabei muss dieses Verhalten nicht immer bewusst sein, sie sind zu einem großen Teil durch unsere Sozialisierung geprägt: Wer zu Hause immer verwöhnt wurde hat vielleicht nie gelernt zu erkennen, welche Bedürfnisse andere Menschen haben. Und wenn Sie nur dann gelobt wurden, wenn Sie die Bedürfnisse anderer erfüllt haben, dann fällt es Ihnen möglicherweise schwer, eigene Wünsche zu erkennen und zu artikulieren.
Übrigens: Gute Beziehungsgestaltung misst sich nicht daran, nur von Menschen umgeben zu sein, die einem immer recht geben. Wie Carol Dweck, einer der renommiertesten amerikanischen Forscherinnen zeigt, suchen nämlich besonders Menschen mit einem sogenannten „fixed mindset“ nach dieser Art von Beziehungen. Sie bevorzugen Partner, die ihnen immer recht und unaufhörlich das Gefühl geben, großartig zu sein – und büßen dadurch Lebensqualität ein. Während Menschen mit einem „growth mindset“ Beziehungen zu Menschen bevorzugen, die auch Fehler ansprechen und dann liebevoll (!) dabei unterstützen, sich weiter zu entwickeln.
Die Frage: „Wie interessiert sind sie am Leben und an den Bedürfnissen jener Menschen, mit denen Sie Zeit verbringen – und wie interessiert sind diese an Ihrem Leben?“ kann daher ein guter Hinweis auf die Qualität Ihrer Beziehungen sein.
Tipp: Fragen Sie sich weniger oft, was andere Menschen für Sie tun und stattdessen mehr, wo Sie für andere Menschen etwas tun können. Geben ist seliger denn nehmen‘ ist nicht nur ein religiöser Leitspruch, sondern die Glücksforschung zeigt eindeutig, dass es glücklich macht, andere Menschen zu unterstützen. Geben Sie Menschen, die Sie bewerten anstatt verstehen zu wollen, nicht mehr Raum als notwendig in ihrem Leben. Und interessieren Sie sich für andere, anstatt sie zu bewerten. Gehen Sie aktiv auf Menschen zu, erweitern Sie, wenn notwendig, Ihren Freundes- und Bekanntenkreis. Auch wenn Sie dazu vielleicht über Ihren eigenen Schatten springen müssen – es ist nie zu spät dafür!
Weiters zeigt die Forschung, dass es den zufriedenen älteren Menschen gelingt, unangenehme Emotionen zum Beispiel durch Sport so zu kanalisieren, sodass sie innerlich keinen Schaden anrichten können. Die Wirkung dieser Strategie ist durch zahlreiche andere Studien gut belegt und wird als „UNDO-Effekt“ bezeichnet. Amerikanische Forscher haben dazu herausgefunden, dass dieses Verhalten Menschen, die besonders widerstandsfähig sind, und die mit belastenden Ereignissen besonders gut umgehen können, vereint. Sie versuchen, direkt nach einem negativen Ereignis nicht sofort darüber nachzudenken, wie eine Lösung aussehen könnte. Sondern gönnen sich zuerst einmal eine positive Ablenkung, bevor Sie an die Lösung des Problems herangehen. Übrigens ist ein Ergebnis der Studien von Vaillant besonders überraschend: Ob die Kindheit unglücklich oder äußerst positiv gewesen war, hat statistisch gesehen keinen Einfluss mehr auf Zufriedenheit, Gesundheit und Lebenslänge im fortgeschrittenen Alter. Die gute Nachricht ist daher, dass unser eigener Einfluss auf unseren Lebensverlauf weitaus größer ist, als die Prägung und die Erfahrungen in jungen Jahren.
Tipp: Legen Sie eine Liste mit Dingen oder Handlungen an, die Ihnen Freude bereiten. Das sollten sowohl wenig zeitaufwändige Ideen, wie z.B. eine Tasse Tee trinken oder ein bestimmtes Musikstück hören, als auch längere Ideen, wie einen Wochenendausflug in eine Therme sein. Wenn Sie nach einem belastenden Ereignis eine positive Ablenkung suchen, dann haben Sie Ihre ganze persönliche Ideenliste!
Akzeptieren Sie den Rahmen – und malen Sie Ihr Bild
Manche Menschen spielen ihr Leben lang das „Was wäre wenn“ Gedankenspiel: Wenn mich meine Eltern damals auf die Uni geschickt hätten, dann wäre mein Leben erfolgreich geworden; wenn ich reich geheiratet hätte dann …. wenn ich jünger wäre, dann … wenn ich mehr Freunde hätte…
Natürlich stimmt es, dass manche Menschen unter günstigeren Bedingungen leben als andere. Dennoch bringt es wenig, überwiegend die negativ erlebten Rahmenbedingungen des eigenen Lebens in den Fokus zu rücken. Die Gefahr dabei ist nämlich, sich in einer negative Gedankenspirale zu verirren. Diese gibt einem mehr und mehr das Gefühl, ausschließlich in einer Opferrolle zu sein, ohne irgendeinen Einfluss auf sein Leben nehmen zu können. Viktor Frankl, einer der bedeutendsten österreichischen Psychiater, überlebte insgesamt vier Konzentrationslager. In seinem Buch „...trotzdem Ja zum Leben sagen“ beschreibt er, dass es für ihn lebensrettend war, selbst in dieser Extremsituation auf jene Dinge zu achten, die er gestalten konnte. Und er betonte, dass Menschen in jeder Situation Handlungsmöglichkeiten haben, wenn auch der Rahmen noch so eng gesteckt ist. „Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen“ war eine der Lebenserfahrungen, die Frankl den Menschen mitgab.
Tipp: Geben Sie Lebensumständen, die Sie nicht verändern können, nicht mehr Gedankenzeit als unbedingt notwendig. Und widmen Sie sich stattdessen jenen Dingen, die Sie gestalten können. Falls Ihre Gedanken sich dennoch immer wieder auf den nicht veränderbaren Lebensrahmen verirren, möchte ich Ihnen den Leitspruch einer amerikanischen Psychologin mitgeben: Sie müssen sich von sich selbst auch nicht alles gefallen lassen!
Vier Fragen, die Sie sich jeden Abend stellen sollten
Menschen, die mit ihrem Leben zufrieden sind, gelingt es, nicht nach dem großen Glück Ausschau zu halten, sondern die kleinen positiven Momente des Alltags bewusst wahrzunehmen. Das ist oft gar nicht so einfach im Lärm des Lebens. Daher habe ich vor einigen Jahren eine einfache, aber sehr wirkungsvolle Technik entwickelt, um den Tag mit einer positiven Rückschau zu beenden. Die Technik heißt „4-Evening-Questions“ und ihre positive Wirkung ist wissenschaftlich belegt. Sie funktioniert ganz einfach: Nehmen Sie sich 14 Tage lang jeden Abend rund 10 Minuten Zeit, suchen Sie sich einen gemütlichen Platz und schreiben Sie zu den folgenden vier Fragen alles auf, was Ihnen einfällt:
Was hat mir heute Freude bereitet?
Wo habe ich mich heute lebendig gefühlt?
Wofür und wem kann ich heute dankbar sein?
Welche Stärken konnte ich heute ausleben?
Wahrscheinlich werden Sie durch diese Übung bemerken, was Ihnen alles Freude bereitet - und dann können Sie gezielt mehr davon machen. Möglicherweise so, wie das Liebespaar vom Anfang dieses Kapitels. Die beiden bestätigen nämlich ein weiteres Forschungsergebnis der Positiven Psychologie. Nämlich jenes, dass viele Menschen zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr einen Extraschub an Selbstbewusstsein bekommen. Und das ist ziemlich hilfreich dabei, mehr von sich selbst zu leben und sich dabei weniger von den Erwartungen und Bewertungen anderer beeinflussen zu lassen!
Über den/die Autor*in
Dr. Markus Ebner, MSc.
Organisationspsychologie
Begründer des PERMA-Lead Modells
Er unterrichtet an mehreren Universitäten und Fachhochschulen den Schwerpunkt Führung, hat in diesem Bereich zahlreiche Bücher und Publikationen verfasst und verfügt über Zusatzausbildungen in Coaching, Supervision, Krisenintervention, Sozialpädagogik sowie Organisations- und Teamentwicklung. Neben seiner mehr als 20-jährigen Tätigkeit als Trainer, Coach und Berater ist er der Begründer des PERMA-Lead Modells und als einer der namhaften europäischen Experten für Positive Leadership im Board of Directors des Österreichischen Dachverbands für Positive Psychologie. 2021 wurde er für seine Arbeit vom Weltdachverband für Positive Psychologie (IPPA) mit dem „Exemplary Research to Practice Award“ ausgezeichnet.