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Der Durian-Effekt oder Wie wir von unseren Kollegen beeinflusst werden

Dr.  Markus Ebner ,  MSc.

Dr.  Markus Ebner ,  MSc.

Organisationspsychologie
Begründer des PERMA-Lead Modells

Als ich im Jahr 2005 das erste Mal in meinem Leben nach Südostasien reiste, war ich überwältigt. Die Mischung von ungewohnten Gerüchen, Geschmäckern und einer anderen Lebenshaltung ist für einen Europäer außerordentlich spannend. Besonders angetan war ich von den vielen Obst- und Gemüsesorten auf den Märkten, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte.

Der erste große Markt, den ich besuchte, war in der Nähe von Bangkok. Als von Grund auf neugieriger Mensch hatte ich eine Freude daran, sämtliche Obstsorten zu kosten, die ich nicht kannte. Und ich machte Bekanntschaft mit einer Frucht, die ursprünglich aus Indonesien und Malaysia stammt und mittlerweile in ganz Südostasien verbreitet ist: die Durian. Diese Frucht kann bis zu vier Kilogramm wiegen, wird 30 cm lang und hat holzartige Stacheln. 

Ich kaufte also ein Stück von dieser Frucht und kostete sie. Der Geschmack ist schwer zu beschreiben, für mich war es wie eine Mischung aus Apfel, Banane, Vanille und Nuss – und das Ganze in einer ungewöhnlichen Konsistenz. Insgesamt war es keine außergewöhnlich positive oder negative Erfahrung. Als ich einen Tag später in eine Bangkoker Metrostation ging, fand ich am Eingang eine Informationstafel, laut der neben Tieren, entflammbaren Gegenständen, großen Gepäckstücken und anderen Dingen es auch ausdrücklich verboten war, eine Durian-Frucht in die U-Bahn mitzunehmen.

Es gibt in allen U-Bahn-Stationen in Bangkok ein eigenes Verbotsschild, das mit einer durchgestrichenen Durian darauf hinweist. Zuerst erkannte ich gar nicht, was dieses Schild darstellen sollte. Erst durch die englische Beschreibung verstand ich, dass diese Frucht in der U-Bahn verboten ist. Mein erster Gedanke war, dass sie vielleicht aufgrund ihrer stacheligen Schale und des Gewichts geeignet war, Menschen zu verletzen. Aber das war nicht der Grund, wie sich später herausstellen sollte.

Vergangene Wahrnehmung beeinflusst zukünftige Wahrnehmung

Bei meiner Weiterreise nach Singapur fand ich auch dort in den U-Bahn-Stationen Hinweisschilder, die das Mitführen einer Durian in öffentlichen Verkehrsmitteln untersagten. Auf einigen Märkten, wo Menschen Obst verkauften, sah ich dann sogar Durian-Verbotsschilder neben den Verkaufsständen. Und einmal darauf sensibilisiert, fand ich diese Verbotsschilder auch in Flughäfen, Zügen und sogar in Hotellobbys. Auf meinen weiteren Reisen durch Südostasien lernte ich immer öfter Einheimische näher kennen und stellte in den Gesprächen fest, dass eine Durian nicht als irgendeine Frucht wahrgenommen wird. Viele Asiaten bekamen einen von Ekel verzerrten Gesichtsausdruck, wenn es um die Durian ging. Kurz gesagt, die meisten Menschen empfinden den Geruch und Geschmack dieser Frucht als ausgesprochen widerwärtig. Die individuellen Beschreibungen von Durian erstrecken sich von fruchtig über zwiebelähnlich bis hin zu verwesend. Das war also der Grund, warum es in vielen öffentlichen Einrichtungen verboten war, diese Frucht mitzunehmen. Der Geruch scheint für viele Menschen unerträglich zu sein. 

Spannend war, wie sich meine subjektive Wahrnehmung dieser anfänglich ziemlich unbedeutenden Frucht veränderte. Hatte ich meiner ersten Verkostung nicht viel Besonderes abgewinnen können, begann ich nun bei jedem Marktstand, wo ich die Frucht entdeckte, stehenzubleiben, um sie zu inspizieren. Roch sie nicht doch ein wenig nach etwas, das bereits verwest? Ich kaufte Durian-Marmeladen, Durian-Bonbons und eine Menge andere Produkte, die mit Durian hergestellt wurden, um sie von meinen Reisen als witzige kleine Geschenke mitzubringen. Immerhin war diese Frucht ja eine ganz spezielle. Und irgendwann bei einer weiteren Asienreise und einem weiteren Durianmarktstand roch ich es dann ganz deutlich: Diese Frucht stinkt unerträglich! Wie hatte ich diese Frucht jemals in den Mund nehmen können? Und wie kann es sein, dass ich sie vor Jahren ziemlich neutral wahrgenommen hatte? Meine Bewertung des Geruchs hatte sich also signifikant verändert. Die Veränderung geschah aber nicht durch einen bewussten Prozess, sondern durch eine oftmalige Wahrnehmung von Bewertungen anderer Personen. Nicht ich hatte entschieden, dass ich diese Frucht nun ekelerregend empfinde, sondern der Prozess der unbewussten Beeinflussung durch Wertungen anderer Menschen hatte tatsächlich zu einer Veränderung meiner Geruchs- und Geschmackswahrnehmung geführt. Die Menschen, mit denen ich in Kontakt war, hatten meine Einschätzung geprägt, ohne dass es deren explizites Ziel war. 

Der Effekt ist uns bekannt

Diesen Effekt nutzen übrigens die meisten Eltern bewusst, wenn sie ihren Kleinkindern deutlich machen wollen, was sie alles nicht in den Mund nehmen sollten. Oft wird mit einem ekelverzerrten Gesichtsausdruck und dazu passenden Lauten dem Kind gezeigt, dass etwas ungenießbar ist. Und es ist spannend zu beobachten, wie Kinder diese Gesichtsausdrücke nachahmen und später sogar von sich aus Erwachsenen den passenden Gesichtsausdruck zeigen, wenn sie den Gegenstand in die Hand nehmen.

Hier ist soziales Lernen passiert. Und dieses soziale Lernen geschieht bewusst und unbewusst überall dort, wo Menschen zusammenkommen. Beispielsweise wird die Bewertung, welche Verhaltensweisen als positiv oder negativ wahrgenommen werden, maßgeblich durch die Gruppe, zu der man gehört, geprägt. Welche Kleidung als angenehm empfunden wird (die Pole reichen hier ja bekanntlich von FKK bis zur Ganzkörperbedeckung), hängt definitiv nicht mit Temperaturunterschieden, sondern mit kulturellen Einflüssen zusammen. Menschen, mit denen wir uns freiwillig umgeben oder die durch den Arbeitskontext Teil unseres Lebens werden, beeinflussen uns somit in den meisten Fällen weitaus mehr als alle Bücher, Zeitschriften oder andere rein intellektuelle Inhalte. Die Werte und Standards der Menschen, die uns nahe sind, werden mit der Zeit Teil unseres eigenen Wertesystems. 

Durian-Effekt in Teams 

In einem Team, in dem gegenseitige Unterstützung einen hohen Stellenwert hat, werden neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diesen Standard eher entwickeln als in einem Team, in dem konkurrierendes Verhalten im Vordergrund steht. Und das nicht unbedingt, weil sie sich dafür aktiv entschieden haben, sondern weil die Teamkultur ihr eigenes Verhalten beeinflusst. Ein Freundeskreis, in dem Sport einen geringen und passive Unterhaltungsangebote einen hohen Stellenwert haben, wird mit großer Wahrscheinlichkeit bei seinen Mitgliedern dementsprechende Tendenzen vermindern oder fördern. Ebenso beeinflussen Organisationkulturen ihre Belegschaft maßgeblich. Ob ein distanzierter oder freundschaftlicher Umgang unter den Kolleginnen und Kollegen herrscht, ob bei Weiterbildungen ein passives oder selbstbestimmtes, aktives Verhalten gezeigt wird, inwieweit man seiner Führungskraft ehrliches Feedback gibt oder welcher Umgang mit Kunden als normal erlebt wird, ist maßgeblich durch die Werte und Standards dieser Organisation beeinflusst. Konkret also von den Menschen, die diese Organisation bilden. Menschen, die Teil des eigenen Lebens sind, beschreiben uns nicht unbedingt wie ein leeres Blatt, aber sie erhöhen oder vermindern unsere eigenen Standards und Werte. Sie sind somit ein relevanter Beitrag dazu, ob wir unser positives Potenzial entfalten oder unseren weniger günstigen Seiten den größten Raum geben. 

Menschen in Teams beeinflussen sich somit gegenseitig, das steht fest. In einem Experiment an der Universität von Florida stellte sich heraus, dass andauerndes unverschämtes Verhalten gegenüber einem Teammitglied mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass dieses Teammitglied auch gegenüber anderen Kollegen unverschämter wird. Verhaltensweisen einzelner MitarbeiterInnen im Team sind also wie ein Virus, der sich ausbreitet. Im Positiven wie im Negativen. Somit beeinflussen Führungskräfte die Teamkultur maßgeblich damit, welches Verhalten sie dulden bzw. positiv hervorheben. Das wirkt sich auch direkt auf die Leistung aus. Studien in Teams mit medizinischen Aufgaben haben gezeigt, dass akzeptiertes rüdes Verhalten der Teammitglieder die Leistung um ganze 12 Prozent vermindert. 

Positive Beziehungen haben messbare Auswirkungen

Studien des verstorbenen Wissenschaftlers Petersons zeigen eindeutig und eindrucksvoll die große Bedeutung von positiven sozialen Beziehungen für Menschen – und das in jedem Lebenskontext. Eine Menge Forschung zu dem Thema steht mittlerweile zur Verfügung und zeigt, dass positive Beziehungen zahlreiche erfreuliche Konsequenzen, wie eine schnellere Erholung nach Krankheiten, eine höhere allgemeine Lebenszufriedenheit, einen geringeren Stresslevel und sogar ein längeres Leben haben. Das Schulklima (maßgeblich beeinflusst durch die wahrgenommene zwischenmenschliche Beziehungsqualität) hat einen messbaren Einfluss auf die Leistung der Schülerinnen und Schüler. Auch auf ungünstige körperliche Entwicklungen hat Beziehungsqualität einen Einfluss:

Eine amerikanische Studie mit rund 3.000 Teilnehmern fand heraus, dass Menschen, die im Erwachsenenalter eine gute soziale Unterstützung von ihrer Familie erleben, eine geringere Wahrscheinlichkeit haben später an Fettleibigkeit zu leiden. 

Über den/die Autor*in

Dr. Markus Ebner, MSc.

Organisationspsychologie
Begründer des PERMA-Lead Modells

Er unterrichtet an mehreren Universitäten und Fachhochschulen den Schwerpunkt Führung, hat in diesem Bereich zahlreiche Bücher und Publikationen verfasst und verfügt über Zusatzausbildungen in Coaching, Supervision, Krisenintervention, Sozialpädagogik sowie Organisations- und Teamentwicklung. Neben seiner mehr als 20-jährigen Tätigkeit als Trainer, Coach und Berater ist er der Begründer des PERMA-Lead Modells und als einer der namhaften europäischen Experten für Positive Leadership im Board of Directors des Österreichischen Dachverbands für Positive Psychologie. 2021 wurde er für seine Arbeit vom Weltdachverband für Positive Psychologie (IPPA) mit dem „Exemplary Research to Practice Award“ ausgezeichnet.